Mittelrhein

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Während der durchschnittliche Tourist begeistert Fotos für die Daheimgebliebenen anfertigt, wenn er etwa von Koblenz mit dem Ausflugsdampfer rheinaufwärts fährt, dürfte es seinem weinaffinen Mitpassagier einen Stich ins Herz versetzen angesichts der vielen verwilderten - fachsprachlich „verbuschten“ - Weinberge, die er am Flussufer erblickt. Die hohen Anforderungen der Steil- und Steilstlagen, die zusammen fast 90 Prozent der Rebfläche ausmachen, haben den Mittelrhein zum mittlerweile zweitkleinsten Weinbaugebiet Deutschlands herabsinken lassen: lag die Gesamtfläche um die vorletzte Jahrhundertwende noch bei weit über 2000 Hektar, halbierte sie sich bis in die 70er und dann innerhalb von 30 Jahren noch einmal. Immerhin scheinen die verbliebenen etwa 450 Hektar und die sie bewirtschaftenden 150 Winzer nun ein recht stabiles Plateau zu bilden - und ein Zuwachs ist nicht ausgeschlossen, denn unter den brachliegenden Flächen sind wahre Filetstücke, die nur auf einen fleißigen Jungwinzer in Goldgräberstimmung warten, der ihnen wieder Leben einhaucht.

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Im Detail

Mittelrhein


Die Landesgrenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz trennt das Gebiet in den Bereich Loreley, der auf über 100 Kilometern dem Verlauf des Rheins bis nach Bingen folgt, wo er mit den Weinbaugebieten Nahe, Rheingau und Rheinhessen zusammenkommt, und den geradezu winzigen Bereich Siebengebirge. Der wirkt, als ob man aus Mitleid die kleine Fläche um Königswinter miteinbezogen habe, damit auch NRW noch irgendwie einen Anteil am deutschen Weinbau bekommt. Aber bloß kein Spott, wahrscheinlich wurde in keinem anderen Weinbaugebiet mehr jüngere Geschichte geschrieben als hier, denn durch die Nähe zu Bonn avancierten die Weinlokale zu einem beliebten Ausflugsort für Politiker, Ministerialbeamte und Diplomaten der alten Bundesrepublik. Nicht umsonst heißt die einzige Großlage im Bereich Siebengebirge Petersberg, nach jenem, auf dem das Gästehaus der BRD steht, das vom Schah von Persien über Breschnew und die Queen schon viel Politprominenz unter seinem Dach beherbergte.


Die Stadtgründungen von Bonn und insbesondere Köln durch die Römer waren denn auch die Initialzündung, den Weinbau von der Mosel weiter herauf in den Norden zu ziehen; das gesamte Potential der Region nutzten aber erst die Frankenherrscher, deren großzügige Hofhaltung es erforderte, auch rheinaufwärts südlich von Koblenz Reben zu pflanzen. Die Dutzenden Burgen und Ruinen, ob sie nun tatsächlich aus dem Hochmittelalter stammen oder spätere Fantasieprodukte reicher Anhänger der Rheinromantik sind, bezeugen eindrucksvoll, welchen enormen Status es zu allen Zeiten mit sich brachte, ein Plätzchen hoch über dem Rhein sein eigen zu nennen. Ein Spannungsfeld zwischen nobler Weltläufigkeit und düsterer Archaik war der größte deutsche Strom schon immer. Diese blitzt etwa in den uralten Lagennamen auf - wie an der Mosel auch enden hier viele mit demselben keltischen Begriff: Feuerlay, Fässerlay und Gartenlay verweisen alle auf den schroffen Fels, auf welchem die Trauben in die Sonne lächeln.


Ebenfalls im Dunkel der Jahrhunderte begegnet uns die Herstellung von Feuerwein, eine mittlerweile völlig vergessene Kulturtechnik. Da der auf konventionelle Weise erzeugte Wein im Mittelalter und der Frühen Neuzeit meist sehr sauer war und erst durch Zugabe von Gewürzen genießbar wurde, entwickelte man ein Verfahren, das die Gärung massiv beschleunigte und einen hohen Anteil Restzucker im Wein beließ. Dafür platzierte man das Weinfass - einerlei, ob roten oder weißen Inhalts - in einer „Feuerkammer“, wo es, durch eine Metallplatte vor zu direkter Hitze der darunter liegenden glühenden Kohlen geschützt, derart stark erwärmt wurde, dass sich in kürzester Zeit große Mengen an Gärungskohlensäure bildeten. Etwa 72 Stunden später ließ das Brausen des kochenden Mostes nach, der Wein war völlig durchgegoren, hatte aber kaum an Süße verloren. Was wie ziemliches Hexenwerk klingt, brachte auch für heutige Verhältnisse noch sehr gute Ergebnisse hervor: zwar lieblich, aber doch mit einer feinen Säure, trotz der Jugend wunderbar intensiver Farbe, dazu noch ganz und gar frei von Heferückständen und künstlichen Zusätzen aller Art. Besonders in den Niederlanden und den Hansestädten war dieses Kunststück begehrt wie sonst nur die edelsten Südweine und machte dessen Herkunftsort, das kleine Bacharach, in aller Welt bekannt.


Der Name der Stadt ist auch wieder keltisch, eine populäre Legende sieht jedoch Anleihen beim lateinischen „Bacchi ara“, Altar des römischen Weingottes Bacchus. Diesen „Altar“ gab es anders als die Namenverwandtschaft tatsächlich, er war ein mächtiger Felsblock im Rhein, auf dem Opfer dargebracht und Orgien gefeiert worden sein sollen; Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er wie viele andere steinerne Handelshemmnisse im Fluss gesprengt. Denn so dankbar die Winzer über ihre direkte Anbindung an den Rhein sein konnten, der es ihnen ermöglichte, ihre Erzeugnisse innerhalb weniger Tage zu den großen Umschlagplätzen in Köln und Frankfurt und dann weiter nach ganz Europa zu transportieren - die Rheinschifffahrt war damals nicht ohne. Wies der Fluss im Rheingau noch 1000 Meter Breite auf, so verschmälerte er sich bald darauf auf deutlich weniger als ein Fünftel davon, was die Strömungsgeschwindigkeit massiv ansteigen ließ. Auf seinem Weg durch das Rheinische Schiefergebirge wurden darüber hinaus viele beständigere Gesteinsformationen nicht abgetragen und verblieben als tückische Barrieren. Erst das sogenannte Binger Loch etwa machte - ebenfalls mithilfe von Sprengstoff - im 17. Jahrhundert ein quer zur Fließrichtung liegendes Quarzit-Riff für größere Schiffe passierbar. Ein anderes natürliches Hindernis ist deutlich bekannter, ja geradezu zum Inbegriff der Rheinromantik geworden: die Loreley bei St. Goarshausen, ein 130 Meter hoher Schieferfelsen. Die Strudel, die sich an dieser tiefsten und engsten Stelle des Rheins bilden, haben in früheren Jahrhunderten so manches Schiff ins Verderben gezogen - oder hat, wenn man der Sage Glauben schenken möchte, die durch Brentano und Heine literarisch verarbeitet wurde, vielleicht doch eine schöne junge Zauberin die Schiffer durch ihren Gesang auf Abwege geführt? Was es auch war, gottesfürchtige Kapitäne riefen noch bis ins 20. Jahrhundert mit der Schiffsglocke ihre Matrosen zum Gebet, bevor sie die berüchtigten Untiefen passierten. Heutzutage hat Vater Rhein seine Schrecken größtenteils verloren. Auf den sieben Kilometern zwischen Oberwesel und St. Goar regelt seit 50 Jahren ein System aus Lichtsignalen den Schiffsverkehr - das ist zwar nicht mehr besonders romantisch, sorgt aber immerhin dafür, dass der Wein nun verlässlich seinen Zielort erreicht und nicht zum Labsal für die Fische wird.

Während die Mosel von vielen Touristen des Weins wegen besucht wird und die Landschaft oft ein schönes Beiwerk ist, kann man am Mittelrhein wohl eher das Gegenteil beobachten: die Menschen kommen für die UNESCO-zertifizierte Kulturlandschaft und stellen dann freudig überrascht fest, dass hier ja auch herrliche Tropfen gedeihen. Die berühmte rheinische Gastlichkeit in den Weinstuben der überwiegend eher beschaulichen Familienbetriebe - ein Drittel von ihnen betreibt nebenbei Gastronomie - tut ihr Übriges. Die ganz großen Spitzenweingüter sucht man hier zwar vergeblich, dafür ist das Mittelfeld sehr solide, denn man reguliert die Erträge auf durchschnittliche 60 Hektoliter pro Hektar, um wirklich handfeste Weine ins Glas bringen zu können. Und diese sind vergleichsweise günstig, obwohl die Bewirtschaftung der Steilhänge sehr arbeitsintensiv, ja allgemein ökonomisch herausfordernd ist, da der Terrassenweinbau durch die notwendigen Böschungen über ein Drittel Fläche verliert im Vergleich zum Anbau auf ebenem Gelände. Allerdings gibt es auch Vorteile: die kalte Nachtluft fließt am Morgen schnell zum Fluss hin ab, was die Vegetationsperiode verlängert und es insbesondere spät reifenden Rebsorten überhaupt erst ermöglicht, derart weit im Norden noch gute Ergebnisse zu erzielen. Am Bopparder Hamm kann man das gut beobachten, der größten Rheinschleife, an deren linker Seite auf nur fünf Kilometern die größte zusammenhängende Rebfläche des Mittelrheins liegt. Vor allem Riesling wird hier angebaut, 70 Prozent des Gesamtertrages entfallen auf diese Rebsorte, die mehr als alle anderen von den Grauwacke- und Schiefer-Verwitterungsböden profitiert, die Wärmespeicher und Mineralienlieferant zugleich sind. Häufig werden sie feinherb ausgebaut, damit die knackige Säure nicht zu sehr in den Vordergrund tritt. Oder man keltert direkt einen Sekt, eine Spezialität der Region, denn eigentlich gibt es nichts, was es vom Mittelrhein nicht gibt: blumige Weiß- und Grauburgunder, saftiger Müller-Thurgau, fein muskatwürziger Kerner und auch sehr beachtlicher Spätburgunder, der es auf vulkanischem Untergrund zu in diesen Gefilden unerwarteter Finesse bringt. All das ist ehrlich und bodenständig, man schmeckt die Handarbeit hinter diesen perfekten Essensbegleitern. Experimentieren sollen andere, sagt man sich hier, wir machen, was wir können. Oder doch nicht? Das ist schwer zu sagen, denn der Investitionsstau der vergangenen Jahrzehnte lässt ehrgeizige Zukunftsprojekte für viele noch in weite Ferne rücken.


Die geografische wie geschmackliche Kompromissposition zwischen der Mosel mit ihrer herzhaften Säure und dem blumig-schmelzigen Rheingau ist zwar an sich eine komfortable. Also auf die Sicherheit der Tradition setzen oder doch wie etwa Pfalz und Rheinhessen zu neuen Ufern aufbrechen? Schwierig. Wahrscheinlich gibt es in Deutschland gerade kein anderes Weinbaugebiet, das sich derart im Umbruch und auf der Suche nach sich selbst befindet wie der Mittelrhein. Wohin auch immer der Weg führen mag, eins steht fest: dieses gesegnete Fleckchen Erde möchte sich niemand ohne Weinbau vorstellen, der seit anderthalb Jahrtausenden das wirtschaftliche wie kulturelle Rückgrat der Region ist.

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